Zeit und Kulturen

I

„Ich hab keine Zeit.“ – eine von den überhaupt häufigsten Phrasen, die man hört fast von allen Leuten der modernen Welt; die alle plagt der Gedanke, dass sie keine Zeit haben. Aber strikt physikalisch genommen es ist ein Widersinn. Zeit ist eine Größe, die von uns völlig unabhängig ist, und niemand von uns kann sie noch am wenigsten ändern. Wir leben in der Zeit, und den Veränderungen, die sie daselbst bringt, sind wie durchaus untergeordnet, weil sie den Bestandteil unserer natürlichen Umwelt bildet. Wir können nicht beibringen, dass der Tag ohne Morgens sei oder zwei Abende habe.

Was steckt also hinter jener Vorstellung, dass man „mehr Zeit brauche“, die jedoch plagt die Leute ganz real? Wir werden dieser Frage von Grund auf nachgehen müssen. Unser erste Anhaltspunkt könnte sein, wenn wir uns vorstellen, wie ein gemeine Mann auf unseren Einwand über physikalische Sinnlosigkeit der obergenannten Behauptung reagieren würde: Selbstverständlich, ich „habe“ Zeit, aber mir bleibt der Zeit nicht übrig für das , oder jenes, was ich tun sollte/möchte, ich habe keine Zeit diesem oder jenem mich zu widmen, ich habe keine Zeit für diesem oder jenem Menschen, für diese oder jene Ding. Können Sie das nicht verstehen? Die Klage auf mangelnde Zeit zielt also nicht daraufhin, dass wir unzulänglich ihr Fließen erlebten, oder dass wir um die sie konstituierende Rhythmen beraubt würden (was kann z.B. den Leuten in Polargegenden geschehen, oder den in unnatürlicher Umwelt lebenden – im Gefängnis, auf einer kosmischen Station usw.), sondern sie strebt auf einen höheren Ziel zu, und nämlich auf unsere Ambition mit der Zeit umzugehen, mit der Zeit zu disponieren.

Der Mensch von heute ist hoch über den natürlichen Menschen der längst vergangenen prähistorischen und historischen Epochen hin gewachsen. Er will Vieles davon beherrschen, was der Mensch von Gestern demütig als einmal Gegebenes akzeptieren würde. Es ist also kein Wunder, dass er auch mit der Zeit disponieren will, also mit seiner privaten Zeit, mit der zeit seines Lebens; er will sie für die lediglich von ihm selbst bestimmten Vorsätze ausnutzen. Man nennt das Planung, aber es ist eine Aktivität, die etwa auf heiklem Fuß steht. Wenn auch wir die Anschauung akzeptieren, dass die Zeit objektiv, gleichmäßig und ganz sicher läuft, und dass wir uns darauf verlassen können, dass von 15 zu 15.30 genau eine Halbestunde verlauft, und dass ein solcher Zeitpunkt wirklich tritt ein, ist unsere Planung durch zwei Tatsachen beschränkt: Erstens: Die ganze Sphäre der Vergangenheit ist uns unzugänglich. In die Vergangenheit können wir keine „Appointments“ platzieren. Ob wir die Zeit auf beliebiger Weise verbracht haben, gefällig oder ungefällig, ob wir es gut genutzt haben oder haben wir es vergeudet, und ob wir hundertmal gewünscht haben würden, dass sie anders verläuft gewesen wäre, wir können darauf nicht mehr ändern. Und wie ist es mir der Zukunft, damit können wir disponieren? Na, teilweise. Über Zukunft machen wir uns Vorstellungen, die wir mit verschiedenen Dingen füllen, und dann zu realisieren versuchen. Unser Wille und unsere Bemühung das Vorgenommene zu leisten bestimmt die konkrete Gestalt der Zukunft mit. Aber nicht gänzlich und völlig.

Was soll also die Behauptung: „Ich hab keine Zeit“ meinen, wenn wir sie in obergenannter Betrachtungsweise auffassen? Nichts mehr und nichts weniger als das, dass ich in meiner Vorstellung nicht genug Freiheit „habe“, mit der zeit zu disponieren, dass ich mit „meiner“ Zeit nicht so genau handhaben kann, wie ich möchte. Und jemand versteht sicher, warum ich gerade jene zwei Wörter in vorausgehendem Satz in starke Anführungszeichen gegeben habe. Denn gerade der Anspruch mit der Zeit zu manipulieren ist das Problem. Ich bin unzufrieden, weil ich meinen Willen gegen die Zeit nicht durchsetzen vermöge. Aber was wenn ich das umgekehrt versuchen würde? Wenn ich dagegen mich daran einzustimmen versuchen und herausfühlen würde, was die Zeit von mir verlangt? Vielleicht könnte ich mit sie danach sogar „ein Handel machen“, damit sie mir so einmal weicht in einigen von meinen Vorhaben.

II

Den Anstoß zu vorangehender Überlegung hat mir meine linguistische Erfahrung gegeben. Es ist mir einmal eingefallen, wie könnte man den stets wiederholten Satz „Ich hab keine Zeit“ in antike Sprachen übersetzen. Und ich sah, dass zum Beispiel ins Latein würde es sehr schwer gehen. Ein Römer würde diesen (lexikal und grammatisch durchaus mögliche) Satz wahrscheinlich nie sagen. Vielleicht dann, wenn er durch einen starken Zeitbedarf in höchster Eile bedrängt würde, beispielsweise in einer Schlacht, aber auch dann würde er eher über „die Kürze der Zeit“ sprechen. Bestimmt würde er nie solche Wörter benutzen um sich z.B. seinem Freunde aus einem Festmahl zu entschuldigen: Er würde eher ihm kundtun: negotium od. officium mihi est, das ist: „Ich habe eine Pflicht“, einen „Business“, und dadurch würde er das Erfüllen von den Pflichten seines Standes, oder seiner Funktion verstehen, weil andere „Pflichten“ würde er überhaupt nicht haben; erst später kommen die Zeiten, wann der Mensch mehrere Aufgaben in der Gesellschaft haben wird, wann er in verschiedenen und vielfältigen Rollen auftreten wird, einmal ist er den Herrn, einmal den Armen spielt, einmal den Weisen, einmal den Schüler (z.B. eine Lehrerin auf Klassentreffen der Familienangehörigen in der Schule ihrer Sprösslings). In der Zeit, damit wir uns jetzt hier beschaffen, es ist noch nicht so. Man ist etwas, und er ist das ganz und völlig, morgens wie abends. Und als solcher hat er praktisch nur zwei Möglichkeiten, wie die Zeit zu verbringen: Er kann entweder seiner Verpflichtung den Vorrang geben, oder der Muße; eine mehr komplizierte Wahl kommt für ihn kaum zu Überlegung.

In der – obwohl den Römischen vorausgehenden – Gesellschaft der freien Griechen, würde das Bild vielleicht ein wenig bunter. Ein freie und begüterte Bürger der griechischen Polis, muss praktisch nichts tun; sogar dem Militärdienst kann er sich – manchmal mit Schande, aber trotzdem – entziehen. Er kann einerseits einem öffentlichen Amt sich widmen, oder kann er ein oder mehrere Künste pflegen, was ein breites Spektrum von Aktivitäten umfasst, von Seefahrt bis zu Dichtkunst, oder von Musik bis zu Medizin. Ein Konflikt zwischen Rollen und Zeitansprüchen, kann also auch schwerlich erfolgen, weil alle diese „Rollen“ nur verschiedene Funktionen ihren Trägers sind, der sich gegenüber ihnen (oft sogar gegenüber öffentlichen Ämter) ganz frei fühlt – sie zu tun oder sie zu lasen. Ein Grieche jedoch, der nicht frei oder unvermögend ist, wird durch seinen Stand sowieso gefesselt, wie ein jeglicher armer Mensch von altersher bis nach heute.

Was die Zukunft betrifft, die planen weder der Grieche noch der Römer zu viel; man hat damit vielleicht einige Absichten oder Vorhaben, aber man weißt doch, dass ihnen von weitem nicht gegeben sein muss sie durchzuführen. Wenn sie sie jemandem – etwa in einem Brief – offenbaren, vergessen sie nie hinzuzufügen si diis placuerit – wenn es den Göttern gefallen würde. Lasst uns nur vergegenwärtigen, dass wir uns in einer Zeitperiode uns befinden, wann ein ordinäres Meergewitter schon einen normalen Handelsweg durchaus verhindern oder mindestens auf Monate verschieben kann. Ein tatkräftige Römer haltet deshalb lieber nach dem Sprichwort carpe diem: Nutze aus, was dir der Tag bietet.

III

Dieses (gemeinsame) griechische-römische Weltbild, bei dem es als ein großes Heute genommen wird, hat eine riesige Kulturbedeutung, weil es tief in dem Wahrnehmen von dem Götterwelt verankert wird. Den höchsten (oder besser gesagt den aktuell mächtigsten) Gott haben nämlich die Griechen und Römer gemeinsam: Den Djēus/Zeus, und dieser Gott ist niemand Andere , als der Gott Tag, also das Himmelsgewölbe, das sich über ganze Welt ausbreitet und vereinigt sie zu eine sinnvolle lichtbestrahlte Ganze –den Tag, lateinisch diēs.[1] Sein Anspruch als das Einigungsprinzip für das gesamte bewohnte Erdreich (griech. oikúmené )zu dienen ist so einfach und allgemeinverständlich, dass er (in seiner Zeit) ungewöhnlich rasche und eindeutige Verbreitung der griechischen Kultur und Römischer Macht zu ganzem subtropischem Teil der nordischen Hemisphäre bis nach Indien ermöglicht hat.

Trotzdem es gab in der Antike auch Kulturen, die mit diesem Konzept sich nicht abfinden weder identifizieren konnten. Teilweise gilt dies für die Ägyptische Kultur, die jedoch „ragt her aus der vorangehenden Kulturepoche hinaus“ und es wäre natürlich unlogisch bei ihr eine völlige Identifikation mit dem Idealbild der nachfolgenden Epoche zu erwarten, völlig jedoch für eine andere Kultur , die die spätere Europäische Kultur mitbestimmt hat, nämlich der Kultur der Juden. In beiden diesen Kulturen spielt die Zeit und deren Ablauf viel größere Rolle als in der Kultur der Griechen und Römer.[2] Sogar der einfältigste von aller Ägyptern sorgt stets dafür, was mit seiner Seele nach seinem Tod passiert wird, in Rahmen der Gesellschaftsstrukturen erwartet jedoch keine Veränderungen – da soll alles immer nach dem Gesetz der zyklischen Erneuerung ablaufen. Bei den Juden ist es anders: Da motiviert das Wandlungs- und Zukunftserwarten den gesamten Lebenswandel Israels. Es gibt selbstverständlich dafür Ausgangspunkte – die Berufung Abrahams, die Auswanderung aus Ägypten. Schon der Charakter dieser Auskunftspunkte ist interessant, sehr interessant: Ausgehen, Auswandern, also ein Fortgang in das Unbekannte, in die Wüste, ist etwas völlig verschieden, als zum Beispiel ein Stadtgründung, die als ein Ausgangspunkt für viele andere Kulturen dienen kann. Und wenn doch die Wanderung der Juden nimmt nach bestimmter Zeitperiode sein Schluss, und auch sie können nun ein eigenes Land genießen – praktisch nur ein enger Landstrich zwischen der Wüste und dem Meer – wo sie sich einsiedeln können, die Entwickelung geht weiter. Ein Teil des dem mythischen Erzvater Abraham gegebenen Versprechens („ich mache dich zu einem großen Volk“) hat sich verwirklicht, trotzdem wissen die Juden irgendwie, dass ihre Zusendung ist damit nicht am Ende. Es kommen die Propheten um dem Israel stets das Botschaft Gottes zu aktualisieren. Und danach verliert sogar das Volk ihr kleines Land, zuerst nur auf eine Zeit, danach aber ganz und gar. Und die Stimme der Propheten wird verdichtet, konzentriert und aktualisiert in die Gestalt der Erwartung; Erwartung von Jemandem, dem Gesalbten des Herrn, wer macht ein großes Ding mit Israel. Und nicht nur mit Israel; alle Völker werden zu Berg Zion kommen und an seinen Wörtern lauschen…

IV
Raumverbreitete und Zeitverbreitete Kulturen

Dieser Vergleich von Israel und Rom kann erbaulich wirken, weil hier zwei extreme zusammenstoßen. Rom war das – etwa nebst China – überhaupt welträumigste Imperium, die die Welt je gesehen hat (das Spanische Kolonialreich darf nicht für Imperium, d-h. ein durchorganisiertes Staatseinheit bezeichnet werden), doch ein Reich, das nur von seiner Gegenwart lebt, nur für heutigen Tag und aus seiner Gnade – nur durch die Gunst der Götter. Heute – ja heute noch kann der Kaiser aus dem Kapitol über entfernte Provinzen gebieten und das Römische Recht und die Römische Sonnenkultur in sie hineintragen, aber die römische Sonne wird eines Tages untergehen, und – was dann? Wird es noch etwas dann geben?

Das ist doch keine bloß theoretische Frage, sondern eine intensive existentielle Bekümmernis manches Römers und sonstigen Einwohner des rund 400 dem Verderben zunähenden Roms. Augustin, von dem sichtbarem Untergang Roms geplagt hat sein umfangreichstes Werk – den Gottesstaat – geschrieben. Der klassische Rom, aus der Gunst der Götter lebend, war ausserstande diese Prüfung zu bestehen. Es musste seine Kulturmission beenden und dem, was brach an und zwar dem Christentum, sie zu übergeben.

Dagegen hatte Israel während des größten Teils der Zeit seiner Existenz gar kein Staat und wenn doch, es war das schmale, vielmehr nur symbolische Stückchen unweit der Mittelmeerküste. Seine Berufung hat er sich doch für Tausenden Jahren geplant. Seine Aufgabe war nicht der gegenwärtigen Zeitperiode Gestalt zu geben, sonder die Zeit selbst zu gestalten. Die Christen, die Erben beider Kulturen waren, wurden dadurch erschrocken, und deshalb sie sich die Gestalt der ewigen Juden geschaffen haben, der nicht sterben kann, weil er den einverleibten, in einen Zeitpunkt materialisierten Messias gelästert hatte. Das ist freilich Unverständnis. Die Aufgabe die Wächter der Zeit zu sein ist geradeso Segen und Fluch.

Trotzdem es kann nicht unterschiedlichere Aufgaben und Beschenkungen (Die Latein hat für Beides nur einzige Termin: munus) geben , als diejenige, welche von den Weltentwicklungsgeistern dem Israel und Rom geschenkt wurden, und sie können uns deshalb als ein Prototyp zwei Formen der Kultur dienen: Die eine orientiert sich auf die Gegenwart und mündet in Bildung eines großen Reiches; oft werden in solchen Kulturen Sonnengottheiten oder allgemein „der Himmel“ (China!) angebetet. Als Beispiel können Die Persenreich, Alexanders Reich, das Inka-Reich, oder schließlich auch die moderne Vereinigte Staaten dienen. Der andere, viel seltenere Typus wird von Völker und Kulturen vertreten, die praktisch keine Reiche beziehungsweise Staaten bilden. (Gewisse Ausnahme wird hier von dem altertümlichen Ägypten repräsentiert – wenngleich dieses „Reich“ sehr kurios war; limitierte sich praktisch auf ein – obgleich großes – Flusstal) Dafür schaffen diese Völker mächtige Kulturgebilde, die durch verschiedene Epochen durchwuchern. Das sind jene „esoterische“ Völker, zu denen muss man nebst die Juden sicher mindestens auch die Kelten und die Armenier zurechnen, in Europa bestimmt die Schweizer, und in weiterem auch vielleicht einige der amerikanischer und ozeanischer Kulturen.

V

Wie aber können uns diese anerkanntermaßen interessanten Erwägungen zu Regelung des Verhältnisses des modernen Menschen zu der Zeit verhelfen? Das war ja der Ausgangspunkt unserer Reflexion. Natürlich nicht unmittelbar, weil von diesen Epochen, über die wir nachgedacht haben, werden wir durch das ganze Mittelalter getrennt. Und gerade diese Epoche müssen wir auch noch erwähnen.

Die Christen haben keine von beiden diesen großen Intuitionen völlig geteilt, die wir hier gerade geschildert haben: Sie hatten weder die Vorstellung eines unbegrenzten oder mindestens erdumfassenden Raum, dem die Einheit wird von einer glänzenden Gottheit eingeprägt, noch die Vorstellung eines unbegrenzter Zeitablaufs, der im wesentlichen immer eine Möglichkeit der Veränderung , der Überraschung, eines schlagartigen Entschlusses Gottes öffnet, wiewohl diese andere Vorstellung stand ihnen zweifelsohne näher. Nun war aber das Christentum von Anfang ab, von den ersten Jahrhunderten seiner Existenz durch sein Inkarnationstheologie determiniert, das ist durch die Überzeugung von Einzigartigkeit und Unwiederholbarkeit des Ereignisses der Inkarnation von Gottheit, die ein unmittelbares Eingreifen Gottes in die Geschichte der Menschheit bedeutete. Der ursprüngliche Impuls einer neuen Religion war so stark, dass ihre Träger den Anschein gehabt haben, dass dadurch eigentlich die Welt und die Geschichte sich zu ihrem Ende genähert haben und nur wenig blieb übrig zu ihrer definitiven Vollendung. Und wenngleich später diese Erwartung von ihnen ein bisschen abändert wurde, immerhin blieben sie eingedenk des Spruches aus Apostelgeschichte: „ Ihr Männer von Galiläa, was stehet ihr und sehet gen Himmel? Dieser Jesus, welcher von euch ist aufgenommen gen Himmel, wird kommen, wie ihr ihn gesehen habt gen Himmel fahren.“ (Apg 1,11) Dem Christentum wurde desto eine Frist abgemessen. Von einem Ankunft des Messias zum anderen. Wie lange Frist, war genau nicht bekannt, aber sie wird sicher nicht sehr lange sein. „Siehe, ich komme bald und mein Lohn mit mir, zu geben einem jeglichen, wie seine Werke sein werden.“ (Offenb 22,12)

Unter solchen Umständen es sich sicher lohnt nicht ein Weltreich zu erbauen. Alle Reiche der Welt sowieso existieren nur aus Gottes Fügung und für eine abgemessene Frist – siehe Daniels Prophezeiung, die die Christen mit Vorliebe lasen (Dan 2,29ff.) Und der Untergang des Römischen Reiches wurde ihnen zu zu eine handgreifliche Bestätigung der Wahrheit der Prophezeiung. Was ist denn Sinnvoll zu tun während solcher abgegrenzten Kurzfrist? Nur Eine – wir müssen uns um die Veredelung (Erlösung) unserer Seele kümmern. „Gott und meine Seele“ ruft Augustin, und auf nichts anderes verlangt er zu achten. Und so wurde diese in der Grundlage einschränkende Weltanschauung zu Förderer der individuellen Verantwortung.

Sobald die Seele vor dem Gott in ihrer Individualität gestellt wird, bedeutet es für sie eine riesige Aufforderung zu Selbstüberwindung. Absoluter Gott kann nichts weniger verlangen als absolute Vollkommenheit. Früher hatten die Götter über die Völker geherrscht, für welche ihre Fürsten bürgten. Nun soll einziger Gott die Menschenseele regieren und die brennend findet sich unzulänglich. Wie viel Zeit habe ich denn, damit ich meine Seele zu schmücken vermöge? Zum erstemal drückt hier in Vordergrund die Frage der individuellen Zeit und ihres Mangel. Tempus fugit – und dieser Schnellste von allen unbeweglichen Boten der Ewigkeit nimmt an sich zuerst die Gestalt des Saturnus, dann des Todes mit der Sense. Zum erstemal erlebt hier der Mensch das Gefühl der Kürze der Zeit, seiner individuellen Zeit, denn diese Zeit wird ihm möglich nicht reichen die Aufgabe, die ihm der Gott gestellt hatte und dessen Erfüllung Gott verlangt, genugzutun.

VI

Der große Verdienst der Reformation ist, dass sie auf die Irrigkeit solcher Vorstellung von dem absoluten Gott hingewiesen hat. Man braucht nicht zu zittern, dass er seine Aufgabe nicht erfüllt und Gott wird ihn dann verdammen; Gott selbst sorgt dafür, dass wir gerettet werden sein. Der große Verdienst der Renaissance liegt darin, dass sie dem Europa jene grenzenlose Sonne des antiken Tages zurückgegeben hat. Nur hat sie sie einem anderen Menschen rückgegeben. Dem Menschen der Neuzeit wurden dank verschiedener Geistesströmungen am Rande der Christenheit die Augen geöffnet für die Fülle von Möglichkeiten, die vor ihm standen. Und gleichzeitig war es schon ein Mensch viel mehr bewusst seines Selbst, seiner Verantwortung und seiner Personalaufgabe vor Gott, ein Mensch, der gewissermaßen die Verantwortung für eigene Person in eigene Hände übergenommen hatte. Der Gott steht nicht mehr vor einem jemandem sprechend: „Tue dies und dies lasse!“ Er hat sich entfernt, zurückgetreten, und nun ist es an dem Menschen mit Verantwortlichkeit sein Leben vollzufüllen. Und weil der Mensch nicht aufgehört hat sein Bild zu sein, hat er immer die Tendenz etwa höhere und schwierigere Aufgaben und Ziele sich zu stellen, als er fähig ist zu beherrschen. Wie schwere Aufgabe, und wie brennend erleben wir dabei unsere Unzulänglichkeit! Wie missbehaglich ist es sich selbst ein Richter und Manager zu sein! Kein Advokat, kein Fürsprecher ist da, der aufstehen und zwischen unseres Gewissen und unseres eigene Selbst in der Rolle eines Richters sich stellen würde. Dies alles solltest du schaffen, dies solltest du zu festgesetzten Zeit vollbringen, und tatest es nicht. Und der Gott steht abseits, greift nicht ein; denn der Mensch beruft und bevollmächtigt ist seine eigene Sachen selbst zu verwalten.

Wird es nie besser? Werden wir unter dem Urteil unseres Selbst zugrundegehen, werden wir fallen in unserem Treiben von Migräne bedrückt und mit schwammender Zunge und mit dem Gefühl eines herankommenden Herzschlag? Aber blicken wir mal um uns besser. Die Neuzeit hat dem Menschen auch eine andere Gabe geschenkt – eine viel bessere und achtsamere Munterkeit für unsere Umwelt, für den Raum und auch für die Zeit. Jetzt können wir beispielsweise die Zeit viel besser messen als in dem Mittelalter. Und wir können sie auch beeinflussen: wenn wir das natürliche Tagesschema Morgen – Mittag – Abend modifizieren wollen, wir können das gewissermaßen tun: wir können uns leuchten. Die Menschen vermochten sich auch auf verschiedenste, manchmal auch ziemlich komplizierte Lebensrhythmen einzuüben (wie sind z.B. Turnusdienste an der Bahn oder im Stadtverkehr). Aber da schaut Pferdefuß davon: wir haben uns zu viel daran gewöhnt die Zeit wie Material handzuhaben. Es war jedoch gerade die Zeit, die uns von Gott übriggelassen wurde als ein Sprachloser Hüter unseres Tuns. Wenn wir sie sprechen lassen, vielleicht werden wir von ihr hören deutlich, was wir so viel hören brauchen: „Tue dies und dies lasse jetzt, es wird die Zeit dafür ja noch kommen!“ Vertrauen wir also der Zeit und versuchen wir ihrem Raunen zu lauschen. „Mehr Zeit“ werden wir dafür nicht haben, aber vielleicht wir für uns der Schrei „Ich habe keine Zeit!“ an Kraft und Bedeutung verlieren, denn wir werden lernen der Zeit zu geben wie auch von ihr zu nehmen.

verfertigt 9.5.2011; ins Deutsche übersetzt 10.6.2018

 

Aus Pred 3

Ein jegliches hat seine Zeit,
und alles Vornehmen unter dem Himmel hat seine Stunde.
Geboren werden und sterben,
 pflanzen und ausrotten, was gepflanzt ist,
 würgen und heilen,
 brechen und bauen,
weinen und lachen, klagen und tanzen,
Stein zerstreuen und Steine sammeln,
herzen und ferne sein von Herzen,
suchen und verlieren,
behalten und wegwerfen,
zerreißen und zunähen,
schweigen und reden,
lieben und hassen,
Streit und Friede hat seine Zeit.
Man arbeite, wie man will, so hat man doch keinen Gewinn davon. 1Ich sah die Mühe, die Gott den Menschen gegeben hat, daß sie darin geplagt werden. Er aber tut alles fein zu seiner Zeit und läßt ihr Herz sich ängsten, wie es gehen solle in der Welt; denn der Mensch kann doch nicht treffen das Werk, das Gott tut, weder Anfang noch Ende.



[1] Dasselbe urreligiöse Erfahrung der Identität des Himmelgewölbes oder der Sonne und des Tages kommt zur Ausdruck auch durch das Ungarische nap, das alle diese Bedeutungen auch hat (Es bedeutet nicht gerade den Firmament – das ist ég, aber nebst dem Tage und der Sonne kann es auch das Wetter bedeuten

[2] Alle Weltkulturen haben selbstverständlich in ihren Frühentwickelungsstadien die Vorstellung einer zyklischen Zeit – nämlich eines rhythmischen Zeit, die die Verläufe der Naturvorgänge des Säens, des Erntens,, der Dürre oder des Regens, des Lichtes und der Finsternis, des Hungers und der Fülle – steuert oder sie befolgt entwickelt, und Relikte von solchen Vorstellungen sind auch in später Stadien in manchen Kulturen greifbar. Doch wir selbst uns ja in unseren Gemeinden nach irgendeinem „Liturgischen Kalender“ richten, und das bürgerliche Kalenderjahr hat auch seine Phasen und Rituale. Sondern die Frage, damit wir uns hier befassen, ist, wohin und wozu haben sich diese ursprünglich gemeinmenschlichen Vorstellungen in verschiedenen Kulturen verschoben.