Noch einmal über das Gut
und das Böse
Für diese
Reflexion diente mir als der Ausgangspunkt eine Passage aus dem Verhandlung
Jan Sokols Člověk a Náboženství (Mensch und die Religion, Portál 2004, s. 217 nn.) , die ich hier – ihrer Schwergewichts und Konzisheit halber – zu übersetzen versuche:
Exkurs: Problem des Böses und Theodizee
"Das Böse, als Gesamtsauffassung alles, was uns
widerstrebt, was den Menschen plagt und quält, und was seine Mühe zunichtemacht,
war auf der Welt mindestens von dem Zeitpunkt, wann es der Mensch
zu nennen lernte. Seit langem haben die Leute gefragt, woher
kommt das Böse auf die Welt. Altertümliche Kulturen weigerten
oft zwischen zwei Wegen der Erklärung: Entweder das Böse aus
dem Weltumkreis sozusagen auszuscheiden, und dem bösem Demiurge, einer feindlichen Gottheit, zuzusprechen, oder
ganz widerwärtig zu beweisen, dass dem Bösen keine selbständige Existenz
gehört und nur ein Mangelan Gutem darstellt.
Beide Lösungen haben ihre Schwäche, und so das Denken der Menschen
immer zwischen den beiden schwingt.
Ich kann
nicht verzichten auf einen Kommentar zu dem ersten Absatz: Sokols Erfassen des Wesens des Bösen, seine
"Definition", ist nämlich sehr klug und echt phänomenologisch, denn
sie verknüpft das Böse zu dem Menschen und bedingt es mit
der menschlichen Begriffen davon! Und es macht zugleich die Frage
über dem Herkunft des Bösen –- den thematischen Ausgangspunt Sokols weiteren Erwägungen – überflüssig: Wenn nur
die Menschen könnten diese oder eine ähnliche "Definition" des , Bösen einräumen, sie müssten sagen, dass
das Bösem kommt auf die Welt von ihnen selbst!… Lassen
wir aber Jan Sokol seine Gedanken noch zu entwickeln:
In dem ersten Fall (Manichäer) ist die Welt
wesenhaft gezweit, und ist ein Streitsort von zwei
eben bemächtigten Kräften oder Gottheiten, die aber dann auch nicht
uneingeschränkte Macht haben; in dem Zweiten wirft das Böse sein
Schatten auf die ganze Welt und dadurch auch auf ihren
(eventuellen) Urheber. In dem ersten Fall es scheint, als ob das Böse
zu große Aufmerksamkeit nähme ein,
wohingegen in dem zweiten Fall
als ob etwas getarnt und verharmlost würde, was vielleicht typisch ist
für die selbstvergnügten, erfolgreichen und optimistischen Epochen. Desto
grober pflegt dann ihr Durchschauen sein.
Kulturen und Religionen, mit denen wir uns hier
befasst haben, wählten vorwiegend den zweiten Weg und dualistische,
"manichäische" Vorstellungen in ihnen nur hier und da einbrachen
wie ein fremdartiges Element. Bei monotheistischen Religionen es schwerlich
kann anders sein. Dadurch jedoch blieb das Problem eines "authentisch
Bösen" auf dem Hals zu hangen. In einer stark religiösen
Umwelt konnte es man noch mit einem Hinweis auf die Autorität
Gottes abtun, und die ganze Frage als ungehörig loswerfen: "Weh dem,
der mit seinem Schöpfer streiten will, eine Tonscherbe inmitten
Tonscherben. (Jes 45,9) "Kann ich denn nicht
mit euch so umgehen, wie der Töpfer, o Haus Israel?" (Jer 18.6) "Was bist du, Mensch, dass du deinem Gott
widersprichst?" (Röm 9,20)
Aber so ein autoritative Abweisung der Frage duldet
jedoch die Vorstellung von Gottes Nähe, oder Gottes Freundschaft
nicht, die gerade die biblischen Religionen bringen und immer weiter
steigern: "Ihr seid meine Freunde…" spricht vor seinem Tode
Jesus zu seinen Jüngern (Joh 15,14) Und so
die Klagen einfacher Leute wenden sich zu Gott mit gewissem
Vorwurf, und im Neuzeit wird sie zu theoretischem Problem: Wenn Gott
Menschen und die Welt liebt, warum setzt sie so viel Leiden, Demütigung
und dem Tod aus. Warum lässt er solches Grauen und Unglück auf die Unschuldigen
kommen? Wir besitzen selbstverständig keine Antwort auf diese Fragen, und jeder
Versuch des Menschen für sie eine Lösung zu finden verwickelt sich in seine
eigenen Argumente: Mensch, der den Gott verteidigen wollte? Das ist
das Paradox der Theodizee, der philosophischen Versuchen unsere
Welt und ihr Schöpfer zu verteidigen.
Diese Schwierigkeiten sich also gerade aus dem Wesen
der monotheistischen Religion ergeben, wenn sie nur sich auf einem
allmächtigen Gott versteift, der begreiflicherweise auch für alles
verantwortlich ist. Deshalb spricht gegenwärtige Theologie manchmal auch über
dem "Machtlosen Gott" redet, was allerdings eine paradoxe und nebulose
Vorstellung ist, begrifflich nur schwer zu erfassen: in welchem Sinne
kann der Schöpfer und Erlöser der Welt "machtlos" sein?
Deshalb droht auch, dass aus dieser Vorstellung nur eine sentimentale Floskel
bleibt ("Ich bin dessen nicht schuldig, du bist dessen auch nicht
schuldig…"), die völlig geleert ist. Es liegt mir nahe aber auch
eine andere Möglichkeit: den Begriff des Bösen zu analysieren
oder dekonstruieren.
Die prinzipielle Schwierigkeit liegt in dem Begriff
des Bösen selbst, genauer ausgedrückt, in seinem scheinbaren
Selbstverständlichkeit und in der emotiver Kraft der grausamer
Vorbilde – auch aus jüngst vergangenen Zeiten – die den Menschen
irgendwie hindern den Begriff selbst einer Kritik zu unterziehen. Ehe
wir es jedoch nicht machen, es hat keinen Sinn sich zum Beispiel zu fragen,
woher das Böse kommt. Um zu den vulgären abstrakten Debatten
dieser Art auszuweichen, die schon für ein paar hundert Jahren sich nur
im Kreis bewegen, versuchen wir mal anders zu fragen: Wo sehen wir
das reale, unzweifelhafte Böse?
1.
Erstens man hat da objektive Dinge: Hunger, Pein, Krankheit, Tod. Mit den kämpft man, wie es geht. Der Arzt stillt den Schmerz
und schiebt den Tod hinaus; aber er versteht auch, dass der Tod
gehört zum Leben – Das Lebendige unterscheidet sich von Leblosem gerade
dadurch, dass es kann hungern, die Pein fühlen und auch untergehen,
sterben. Das ist allerdings eine ziemlich abstrakte, allgemeine Betrachtungsweise,
während der Tod ist immer einzigartig und oft auch tragisch. Tod einer
näheren Person jedes Mal zerstört etwas, und auch dann, wann der Sterbende
selbst hat sich darin gefügt. Daran kann man gut sehen, wie die Einzigartigkeit
der Person nicht Isolation meint, sondern den Gegenteil –
gegenseitige Beziehungen, Freundschaft und Liebe.
2.
Von einem "natürlichen" Tod, den man nicht mehr verschieben
konnte, müssen wir andererseits den Mord, Pein oder Tod, die von einem
anderem verursacht worden sind unterscheiden: Morde, Kriege, Vernichtungslager.
Das ist sicher "Böses" in einem anderen Sinne, als der Ton
allein. Es hat etwas zu tu mit Grausamkeit und Terror, mit Neid
und Rache, mit Verachtung und Entwürdigung, mit Zerschlagen und
Zerstörungswut. Man könnte vielleicht sagen, dass es ein gewolltes Böse, ein
zielgerichtetes Hassen sei. So eine Tötung ist
der Gegenstand des Gebotes "Du wirst nicht töten", und
Jesus es richtig auch auf Kränkung und Beschimpfen erweitert Mt 5,22).
3.
Der dritte Typus des Bösen ist dadurch ausgezeichnet, dass es
unbefangen und ungezielt ist: Eigensucht, Rücksichtslosigkeit, Habsucht,
Indifferentismus, Feigheit. Der gemeinsame Nenner davon ist nicht realer Ärger,
sondern die Tatsache, dass sie den Anderen missachten – der Andere
gilt für sie überhaupt nichts. Das Opfer hatte nur Pech, dass es als ein Mittel
zu seinen Zielen gedient hat (oder dass es ihnen in dem Wege
gestanden hat), im Übrigen hat er nichts dagegen. Denn auch die Konzentrationslager
und "Psychuschki" der jüngst
vergangenen Zeit, als unbefangen organisiertes, sogar mechanisches Abschaffen
von Menschen sollten zu dieser Kategorie passen.
4.
Zum letzten ist hier eine sehr geprägte Art des Bösen, das zwar
nicht gewaltsam ist, aber wird immer auf konkrete Menschen gezielt, konnte
aus Wortbrechen, Treulosigkeit, Betrug und Lüge
bestehen. Diese Art des Bösen schädigt nämlich den Menschenbeziehungen
und untergräbt die das gesellschaftliches Vertrauen. Im Unterschied
zu den Vorhergehenden es kann nur den betreffen, der sich
dazu "anführen gelassen“ hat, d.i. es hat sich auf etwa verlassen, er
hat einer Sache geglaubt. Vielleicht gerade deshalb diese Art des Bösen
für empfindliche und ehrliche Leute so ekelhaft ist.
Schon diese sehr vage und grobe Einteilung zeigt uns,
dass der unreflektierte Begriff des "Bösen" zu allgemein
und "autozentrisch", d.i. auf eigenem Blick gegründet
ist. Er schließt alles ein, was ich befürchte, was mir oder uns beeinträchtigt
und hindert. Das aber muss nicht unbedingt "Böses" sein! Mensch,
mit dem ich in Konflikt geraten bin, sicher beeinträchtigt mich,
aber es wäre absurd ihn dafür als "Böses" anzusehen. Die moderne Ära
hat uns gelehrt allgemeine Begriffe bedächtig zu verwenden – die Begriffe
von Wahrheit oder des Gutes beispielweise. Umso größere Vorsicht
braucht man beider Vorstellung des Böses.
Unsere sehr vorläufige Analyse zeigt auch, dass von
den vier Typen des "Bösen" nur die drei Letzteren ohne
Ausnahme böse sind, und nämlich deshalb, dass sie aus Seelen und der Gesellschaft
der Menschen ausgehen. In dem Kampf gegen den ersten Typus
des "objektiven Bösen", gegen Not, Pein und Tod, haben die moderne
Gesellschaften beträchtliche Erfolge erlangen, meistens durch die Technik
und durch gesellschaftliche Organisation. Desto mehr werden wir
durch die anderen Kategorien des "rein menschlichen" , in besonderen organisierten Böses bedroht.
Also Jan
Sokol, dessen bewusst, dass eine einheitliche Auffassung des "Böses"
sehr schwierig ist und dass man beijedem von
durch ihm angegebenen Modellen früher oder später sicher in Aporien
geraten wird, versucht Kategorien zu bilden, in die kann man
mit gewissem Masse allgemeines Einverständnisses die subjektiv als
"etwas böse" wahrgenommene Empfindungen unterteilen. Die Leitlinie
ist für ihn dabei die Absicht, die Intentionalität, die sich in der –
als "Böses" aufgezeichneten – Tat birgt. Und als wahrhaft böses
erscheint ihm nur das "intentionale", von jemandem
betriebene Böse – also seine Kategorien 2-4. Dabei gibt es noch ein wichtiger
Unterschied, ob nämlich man zum Ziel jemandes absichtlichen feindseligen
Aggression wird, oder ob man gegenüber ihm nur als Mittel oder Hindernis wirkt.
(Kat. 2-3) Keine Gegensätzlichkeiten können wir
vielleicht nur bei Sokols letzter Kategorie
konstatieren. Ich gestehe, dass obwohl ich begreife, was für Sachen der Autor
unter der Kategorie 4 sich vorstellt, ich bin nicht fähig sie ihrer Intentionalität
halber von der Kategorie 3 unterscheiden. Niemand lügt wohl nur aus
Vergnügung (das wäre dann eher ein Spiel, eine Mystifikation, meistens gar nicht
bösartig). Ab und zu findet es vielleicht jemand, der seine Nächsten
absichtlich – just um zu exhibieren
-an der Nase herumführt, wie ein Freiherr von Münchhausen,
aber auch das sind meistens harmlose Betätigungen, und die Beschummelten selbst später gernan ihnen
lachen… Lüge und Verrat praktisch ohne
Ausnahme dienten immer zu finsteren persönlichen Zielen: Habgier,
Machtlust, Rache… Sokols
vierte Kategorie sich von den Anderen nicht dadurch unterscheidet, ob hier
um absichtliche Handlung geht, sondern durch ihre Qualität.
(Der Autor charakterisiert es als nichtgewaltiges Böse, aber das reicht
nicht: Manche von Untaten von den vorhergehenden Kategorie kann man –
mindestens in der Anfangsphase – auch völlig lautlos und "ohne
Gewalt" vollziehen.) In diesem Punkt also weist also die Gliederung
einige Schwächen auf. Wenn wir aber zu der Charakteristik von Bösem
zurückkehren, die am Anfang des Aufsatzes erklingt hat (und es ist
eine ausgezeichnete Charakteristik!), wir sehen, dass im Rahmen unserer primordialen Verständnis dessen, was wir als "Böse2
nennen, gab’s kein solcher Unterschied: "Böses" ist immer böse und
Pein ist immer Pein, dessen ungeachtet, ob es von einem Karzinom in unserem
Leibe oder durch eine Waffe in jemandes Hand bewirkt wird. Das
Ermessen der Zielbewusstheit, der Planmäßigkeit ist sicher wichtig aus
dem ethischen Standpunkt, aber so weit sind wir noch nicht gelangen.
Versuchen wir also die Sokols Kategorien
von einem ein wenig geänderten Blickwinkel anzusehen – nämlich unter
dem Blickwinkel dessen, um was für ein Typus des Erfahrens es
handelt, was wir eigentlich erleben in jeder konkreten Lage (wovon leidet
man dabei) -. und ein bisschen sie zu umgestalten. Hier folg meine
ungeübte Einteilung:
1. Im ersten Rang sein angeführt alles, was direkt gegen
unsere Existenz gerichtet ist, alles das, was uns zu töten, zu vernichten,
zu beseitigen sich bemüht. Also der Tod und direkte Aggression
im Sinne Sokols Kategorien 1 und 2. Das Leben ist sicher das wertvollste, was wir auf der Erde
besitzen, und deshalb ein Angriff auf unser Leben wir zweifelsohne
von jemandem als "Böses" empfunden. Das hat Jan Sokol
hinlänglich beschreiben.
2. Auf der zweiten Stelle sein alles das genannt,
was gegen unsere Lebensbedingungen gerichtet ist, gegen das, was für
unseres Leben nötig ist. Hierher gehört sicher Hunger, Ökonomische Verbrechen,
Ausbeutung, Austreibung, und vieles davon, was Sokol in seiner dritten
Kategorie beschreiben hat. Es sein auch bemerkt, dass diese Verbrechen werden
wirklich nicht gegen uns "in Person" gerichtet, sondern
"nur" gegen unseren Besitz, unser Haus usw.; man interessiert sich
nicht an uns selber, sondern an unserem Geld, unserem Arbeitsgerät,
unserem Möbel, und letztendlich meinethalben auch unseren goldenen Zähnen. Wir
sind jedoch Menschen, und als solche sind wir von diesen Dingen abhängig,
und deshalb kann solche Handlung schließlich auch zum Tode führen. Es ist ein
viel brutaler, massiver Böses und – wie Sokol recht angeführt hat – meistens
durchaus ungezielt. In unseren Augen pflegt es deshalb mehr verabscheuungswert
und pervers, als offener Hass und direkte Aggression auszusehen. Zu dieser
Kategorie gehören jedoch auch Angelegenheiten von "nichtintentionaler"
Wesensart. Um unsere Lebensbedingungen können wir auch durch Ausbruch
eines Vulkans oder andere Katastrophen beraubt werden.
3. Das aber, was ich auf der dritten Stelle
aufführen will, hat Sokol in seinen Kategorien nicht. Als
Arbeitsbezeichnung kann "Unwissenheit" dienen. Hierher gehört alles, was
uns in echter Erkenntnis der Welt hindert und in Orientation
darin. Das sind häufig auch subjektive Bedingungen: ein psychisches Handicap,
Mangel an Intelligenz, oder auch Faulheit oder unzulänglicher Wille
zu Erkenntnis zu gelangen. Auf zweiter Stelle hierher muss alles
einbeziehen werden, was uns irreführt und was gegen unsere Erkenntnis gerichtet
ist: Bildungsunzugänglichkeit, künstlich festgehaltene Einheitsideologie, wie
auch Sokols individuellen Lügen und Betrüge. Sokols Bemerkung, dass in solchen Fällen man
"angeführt werden" müsse, daraus sich ergibt, dass man daran teilweise
selbst schuldig sei, scheint mir nicht sehr geeignet zu sein: Einerseits
es gibt Situationen, in welchen wir keine andere Möglichkeit gehabt haben,
als auf die einzelne zugängliche Informationsquelle sich zu verlassen
(Wie viel gutwilligen Leute nur glaubten der kommunistischen Ideologie!),
andererseits glaube ich, dass wir sollten nicht zu der Realität und
zu Menschen apriorisch misstrauisch sein. Methodische Skepsis kann gut
sein für einzige Typen der Wissenschaft, aber in Menschenbeziehungen
sie wirkt destruktiv.
Wenn wir bisher den Menschen und sein Leiden aus dem Gesichtspunkt
seiner immanenten zeitlosen Persönlichkeit angeschaut haben das (Leiden
ist immer aktuell), nun ist der Zeitpunkt gekommen, wo wir uns auch dessen vergegenwärtigen
müssen, dass der Mensch eine in Zeit lebende Person ist, und dass
daraus für ihn weitere typische Gefährdungen folgen. Eine von ihnen kann
man (vorläufig) nennen:
4.
Entwurzelung. Das ist alles, was dem Menschen sein "Boden unter seinen
Füssen" nimmt, also absichtliches Zerstören der kulturellen
Tradition, Verheimlichung des wahren
Geblüts, Austreiben aus Heimat usw., aber auch Zerstören unserer natürlichen
Umwelt, also alles das, was uns zu "Waisenkinder der Erde"
macht, was von uns unsere Vergangenheit beraubt, und dadurch auch
mögliche Orientation. Es ist klar, dass dieser Typus des Bösen schwieriger
die Kinder und junge Leute betrifft – ein Mensch, der schon einen
Teil von seinem Leben hinter sich hat und über eine beträchtliche
Lebenserfahrung verfügt, lässt sich sein "kulturelles Gedächtnis"
nicht so leicht nehmen. Darinnen liegt auch der Wert
der "frommen Omas" oder auch Märchenerzähler.
5.
Wenn es verbrecherisch ist einem Menschen seine Vergangenheit zu nehmen,
und man es mit Recht als Leiden und Böses vernimmt, desto großer
Verbrechen ist es – und ich würde sagen ein Sünde gegen den Heiligen Geist
– einem Menschen die Zukunft und die Hoffnung zu nehmen. Das
sind zwei Sachen: Hoffnung bezieht sich mehr zu der Seele, zu dem,
was bemächtigt uns innerlich entgegen der Zukunft fortzuschreiten, und
beeinflusst unsere gegenwärtige "Zukunftsstimmung", unsere
Vorstellungen von sie, unseren Willen etwas zu unternehmen. Mit
der Metapher "jemanden um die Zukunft berauben" meinen
wir nicht nur das Zerstören der Hoffnung, sondern auch in dem anderen
Sinne auch Zunichtemachen der Voraussetzungen für eine mögliche
Entwickelung zu der Zukunft vorwärts. Ein Lehrer, der einen
Studierenden aus der Schulausbildung rauswirft (was ein Beispiel ist, das Jan
Sokol gern verwendet), zweifellos ändert die objektiven Voraussetzungen
seiner weiteren Entwickelung; dass es nicht immer schädlich sein muss, ist
klar. Für diesen Typus des Bösen leihe ich den Begriff der Psychoanalyse
aus und nenne es Kastration. "Kastration" also meint für mich
Verhütung der Entwickelung, also Vernichtung der Möglichkeiten –
subjektiven oder objektiven – dass der Mensch sich weiterentwickelte und
zu seiner Reife erlangen würde, oder auch sich selbst überwinden würde.
Auch dieses Typus des Bösen wirkt meisten auf die jungen Leute
aus, weil die vor sich noch eine "lange Zukunft" haben, und
bei ihnen es ist noch vieles in Spiel. Andererseits gerade sie sich
dagegen lehnen zäher auf und großen Widerstand dazu leisten.
Noch eine Bemerkung: Von
Verhinderung der Entwicklung soll man Hemmnisse in Entwicklung
unterscheiden. Die Letzteren sind nämlich durchaus natürlich, das Leben
selbst setzt uns sie, und es ist wohl, dass es so tut, denn dadurch lernen wir
sie zu überwinden. Sogar wenn es uns sie zu wenig setzt, es müssen
dann Lehrer und Erzieher antreten und einige für uns künstlich schaffen. Das,
worüber ich mich hier zu sprechen bemühet habe, sind nicht Hindernisse,
auf welchen wir unsere Kraft erproben, die Virilität der Flamme,
die in uns glüht und die uns vorwärts treibt, sondern etwas was sich
gegen der Wesenheit dieser unseren Fähigkeit, gegen das Feuer unseres
Lebens richtet, was löschet es aus und dadurch entwertet das, was in uns
wirklich menschlich ist, was „den Geist aus seinem Tempel treibt“. – Deshalb
habe ich nicht geweigert es eine Sünde gegen den Heiligen Geist zu nennen.
6.
Alle fünf schon erwähnten Typen von Böse und Pein können in ihrer
ausgeprägten Gestalt sehr schmerzhaft sein, wenngleich sie auch durch nichtintentionale
Ursachen verursacht werden können. (Ein unvorhersehbares Ungeschick außerhalb
jeder Menschenbetätigung kann uns auch um unsere Heimat oder um die Möglichkeit
weiterer Entwicklung bringen.) Die letzten zwei Typen, die ich hier
erwähnen werde, umfassen nicht so akuten Schmerz, trotzdem können sie sehr
vernichtend sein. Das Ergebnis dessen, dass Mensch auf der Erde lebt, dass
er notwendige Lebensbedingungen und Kenntnisse hat, dass er inmitten gewisser
Kulturtradition steht und gleichzeitig auch Zukunftsperspektive und -ambitionen
hat, ist seine Arbeit. Jeder Mensch hat eine spezifische Art von Arbeit
und Arbeit jedes Einzelnen, wenn sie aufrichtig vorgehabt ist, ist wertvoll.
Also jemanden in seiner Arbeit oder darin, dass er ihre Früchte
den Anderen präsentieren würde, damit sie sie nützen könnten, zu verhindern,
ist sicher übel und Schaden anrichtet an die „Weltgesamtbilanz“.
Selbstverständlich kann hier eine ganze Reihe von Faktoren ins Spiel
kommen, die gar nichts zu tun mit jemandes Willen haben –
verschiedenste Gesellschaftsströmungen und Mechanismen, nicht in der letzten
Reihe auch die ökonomischen. Trotzdem wenn jemand mit Händen in der Schoss untätig
sitzen muss, oder „in die Schublade“ zu schreiben, es ist schlecht.
Klar, wir leben nicht in einer idealen Gesellschaft und wir vermögen nicht
ohne weiteres verschaffen, dass jemand hier die Anwendung findet,
die er sich vorstellen würde, es sollte uns jedoch am Herzen liegen, dass
wir die Leistungskraft, die Leute mit sich auf die Welt
bringen, auch auswerten können, denn wir nichts wertvoller und für die künftige
Entwickelung der Erde nützlicher haben.
7.
Der letzte Typus des Bösen, den ich hier anführen will, ist
teilweise dem vorhergegangenem ähnlich. Der Mensch ist nämlich irgendwie
und seit alters von der Freiheitsbedürfnis ausgestattet. Ich weiß nicht,
vielleicht war das dadurch oder sonst verursacht worden, dass unsere Ur-
Ur- Urahnen landfahrende Nomaden waren, aber in Besonderem in den modernen
Zeiten fühlt der Mensch in sich ein sehr starke Trieb zu Freiheit,
das ist dazu, dass seine Handlung aus seinen inneren Beweggründen und
Entschlüssen ausgehen würde, und nicht ihm von außen aufgezwungen würde.
Kein Mensch kann sich völlig glücklich fühlen, wenn er nicht frei ist. Alles, was
gegen unsere Freiheit gerichtet ist, ist auch gegen unser Menschsein
gerichtet und ist also böse. Ich könnte die Unzahl von Beispielen
anführen, aber -und das ist interessant – alle würden von „intentionaler“
Natur sein. Die Freiheit nehmen uns nicht Naturkräfte und -gesetze. Wir sind an sie
gewöhnt und wir könnten letztendlich ohne sie – bspw. ohne regelrechte Massen
der Gravitation – gar nicht leben. Nur überlegen wir, wie komisch
die Kosmonauten auf dem Mond hüpfen. Und auch kein Pionier in der leersten
Wüste, der täglich um bloßes Leben mit dem Wetter und
Raubtieren kämpfen muss, würde von sich sagen, er sei nicht frei. Unsere
Freiheit kann nur von anderen Leuten oder ihr Gesamtheit schmerzlich
beschränkt werden. Wir jedoch auch brauchen die Gesellschaft, die Andere.
Wenngleich wir es jetzt auch irgendwie technisch einrichten können um gar
niemanden zu benötigen, es ist nicht gemäß unserer Natur. Unsere Freiheitsbedürfnis steht in natürlicher
Spannungsrelation zu einem anderen Bedürfnis, mit dem Bedürfnis
Kontakt mit den Anderen zu haben. Es liegt also nahe, dass
manches „Böses“ in diesem Gebiet können wir uns auch selbst durch Unbedachtheit
zuziehen. Das betrifft aber meine Reflexion nicht. Nebst dessen, dass wir
können uns selbst um Freiheit bzw. um menschliche Kontakte
durch eine unüberlegte Tat berauben (unbesonnen können wir auch uns selbst
umbringen), es gibt hier Kräfte, die es absichtlich erwirken: die versklaven
uns, oder in Isolation von der Gesellschaft treiben. Und dieses ist der letzte Typus von Bösem,
den ich hier – schon ohne Folgenummer – anführe. Nun jedoch möchte ich bei ihm
ein bisschen verweilen: Wir können sicher auch von einem physischen oder
psychischen Handicap in die Isolation – bspw. Autismus – getrieben
werden. Aber derartige Kräfte und „Wellen“ können auch von Menschen in Bewegung
gesetzt werden. Man kann es gut an Mädchenkameradschaften beobachten: „Ilke ist komisch, mit ihr unterhalten uns wir nicht.“
Und die Ilke leidet sicher darunter. Noch
schlimmer ist es, wenn so ein Ostrazismus ein organisiertes oder
gesamtgesellschaftliches Ausmaß gewinnt. Für (gräuliche) Beispiele aus
neuerlicher Vergangenheit oder sogar Gegenwart müssen wir nicht weit gehen.
Weltweit werden immer noch (bessere oder schlimmere) Filme gedreht, in welchen
spielt der Judenstern die Hauptrolle. Und etwas dunkelhäutiges, dünnes
Gesicht zu haben, dazu braune Augen, eine große Nase und vielleicht auch
ein bisschen lockige Haare, das sind nicht Kennzeichnungen, die euch
überall die Türe öffnen würde. Und – ein bisschen akademische Bemerkung –
so ein Ostrazismus ist abartig, auch wenngleich es nichts mehr Böses, als
die Sterne den Juden während des Krieges passiert wäre!
Zum Schluss bin
ich bei meiner Einteilung zu der Zahl von sieben gekommen (Wiewohl
es vielleicht schon acht sein sollte). Mich hat es aber gefallen mit sieben
sich zu vergnügen. Es ist eine andere Sieben als die sieben
Hauptsünden. (Und um Sünde handelt sich immer, wenn eine beliebige
von hier angeführten „Bösen“ absichtlich beigebracht wird.) Sie ist
verschieden, weil die traditionelle Sieben wurde mit Rücksicht bloß
auf einen einzelnen Menschen und die Maß seiner Selbstverletzung festgestellt,
hier jedoch wurden wir von dem Blickpunk des Schmerzes geleitet,
die man den Anderen anrichtet oder anrichten kann. Unter dem Blickwinkel
des Jesuswortes über das höchste Gebot sind sie also überhaupt nicht
von minderer Wichtigkeit.
Dass
das Böse irgendwie mit der Sünde verknüpft sei, das hat
die Menschheit schon seit jeher gewusst; Christliche Theologie hat diese
Tatsache auch sehr stark reflektiert. Wir haben denn einen Bogen gemacht und
kommen zu dem Anbeginn zurück: Wenn das Böse selbst an den Menschen
gebunden ist und erst durch seine Wahrnehmung der Realität entsteht,
es entsteht in analoger Weise durch sein (unselige) Eingreifen
in die Wirklichkeit als Sünde. Wir müssen das nicht besonders
metaphysisch ansehen: gerade die Sokols
geschilderte Dekonstruktion, die ich hier noch ein Schritt weiter
hinführen versucht habe, leistet uns genug Material um zu sehen, in welchen
konkreten Weisen können wir den Anderen scherz und Pein anrichten,
die sie dann berechtigterweise als Böses vernehmen.
geschr. an 21. März 2010
ins Deutsche übersetzt an 8. September 2020